Grenzgänger im Home-Office sind teuer
03. Juli 2020Nur wegen Corona-Ausnahmen dürfen Grenzgänger derzeit mehr als 25 Prozent zu Hause arbeiten – Patrons wollen die Regeln lockern.
Die Genfer Datenverarbeitungsfirma Devillard hat 120 Angestellte. Rund die Hälfte sind Grenzgänger, die im französischen Umland wohnen. Für viele von ihnen heisst wohnen derzeit aber auch arbeiten – denn seit Ausbruch der Corona-Krise befindet sich rund ein Drittel der Belegschaft im Home-Office. Einige arbeiten nur einzelne Tage von zu Hause aus, andere fast ausschliesslich. Für den Geschäftsführer Claude Devillard ist dies aufgrund der epidemiologischen Umstände eine ideale Lösung für alle: für die Firma, die ein kleineres Risiko von krankheitsbedingten Ausfällen hat, für die Grenzgänger, die sich den oftmals langwierigen Reiseweg ersparen können, und für die Allgemeinheit, da die Ansteckungsgefahr vermindert wird.
Welcher Staat ist zuständig?
Allzu lange dürfte dies jedoch nicht mehr möglich sein. «Dann müssen unsere Angestellten an fast allen Tagen wieder an den Arbeitsplatz pendeln – obwohl das weder sie noch wir wollen», sagt Devillard. Denn im Umgang mit Grenzgängern gilt fürs Home-Office derzeit eine Corona-bedingte Sonderregelung. Oder präziser gesagt: Die eigentlich geltende Bestimmung wird im Einvernehmen mit den europäischen Partnerstaaten derzeit nicht angewandt.
Es geht um das europäische Koordinationsrecht, das im Rahmen des Personenfreizügigkeitsabkommens für die Schweiz massgeblich ist. Auch bei Arbeitsverhältnissen in grenzüberschreitenden Situationen ist immer nur ein Staat zuständig für die Sozialversicherungen – derjenige, in dem die Erwerbstätigkeit ausgeführt wird. Beim Home-Office, bei dem der Arbeitgeber die Tätigkeit zwar für eine Schweizer Firma, aber auf ausländischem Boden ausführt, ist der Fall knifflig: Die Erwerbstätigkeit im Wohnstaat – und damit in dessen Zuständigkeit – gilt dann als wesentlich, wenn sie mindestens 25 Prozent beträgt.
Für eine Schweizer Firma in Genf bedeutet dies also, dass sie denjenigen Angestellten, die in grösserem Umfang von Frankreich aus arbeiten, nach französischem Recht Beiträge für die Altersrente, die Arbeitslosenkasse oder die Invalidenversicherung bezahlen muss. Gegenüber den in der Schweiz fälligen Sozialversicherungsbeiträgen kommt sie das sündhaft teuer. Ein präziser Vergleich ist angesichts der unterschiedlichen Leistungen und Beitragsskalen schwierig – so berappen in Frankreich die Arbeitgeber etwa einen Teil der Krankenversicherungen. Auch die Beiträge, die Arbeitnehmer beisteuern müssen, sind je nach Land unterschiedlich ausgestaltet.
Koordination mit Europa fehlt
Der Unternehmer Devillard spricht vom «vier- bis fünffachen Betrag», der für seine Firma in Frankreich fällig wäre. «Wir können uns dies, zumal die Löhne in der Schweiz höher sind, schlicht nicht leisten», sagt er. Hinzu kommt der administrative Mehraufwand. Der Patron kann seinen Mitarbeitern also nicht wie gewünscht zwei bis drei Tage Home-Office pro Woche anbieten, sondern nur einen. So steht es auch im Arbeitsvertrag – und zwar von sämtlichen Angestellten, damit diese unabhängig vom Wohnort gleich behandelt werden. Mit anderen Worten: Mitarbeiter mit Schweizer Wohnsitz «leiden» darunter, dass ein Teil ihrer Kollegen in Frankreich wohnt.
All dies ist der Normalfall – derzeit gilt jedoch eine Corona-bedingte Sonderregelung. Wie das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf Anfrage schreibt, haben sich die europäischen Staaten dazu entschieden, die Unterstellungsregeln der entsprechenden Verordnung «während der aussergewöhnlichen Situation flexibel anzuwenden». Home-Office werde aufgrund von Covid-19 «bei der Versicherungsunterstellung vorübergehend ausser acht gelassen». Zahlen dazu, wie viele Grenzgänger während der Corona-Zeit im Home-Office waren oder noch immer sind, gibt es nicht, wie das BSV und der Schweizerische Arbeitgeberverband sagen. Es dürften Zehntausende gewesen sein. Denn insgesamt arbeiten gemäss Bundesamt für Statistik nicht weniger als 330 000 ausländische Grenzgänger in der Schweiz (plus etwa 15 000 Grenzgänger mit Schweizer Pass). Der mit Abstand grösste Anteil entfällt auf die Genferseeregion (122 000 Personen).
Wie lange das Laissez-faire noch Bestand hat, ist offen. Beim BSV geht man davon aus, dass sich «das Zeitfenster für diese vorübergehende flexible Auslegung der Unterstellungsregeln in absehbarer Zeit schliessen wird». Ob dies koordiniert mit den Nachbarländern geschehen kann, wird sich weisen. Das BSV schreibt, es habe zusammen mit anderen Staaten auf EU-Ebene versucht, einen klaren Zeithorizont für die Rückkehr zum Status quo ante zu definieren – offenbar vergeblich. «Angesichts der unterschiedlichen sanitären Situationen in den einzelnen Staaten wurde keine europaweite Frist für das Ende der flexiblen Anwendung der Unterstellungsregeln vereinbart», so das BSV. Es scheint noch nicht einmal klar zu sein, wie die einzelnen Länder zurzeit verfahren. Das BSV schreibt, dass die flexible Auslegung «aus Sicht der Schweiz weiter gilt, solange nichts anderes vereinbart wurde mit den Nachbarstaaten».
Man darf jedoch davon ausgehen, dass die Home-Office-Sonderregelung eines Tages flächendeckend fallen wird und die Grenzgänger im Schnitt also wieder höchstens einen Tag pro Arbeitswoche zu Hause bleiben dürfen – zum Unmut der Patrons. Blaise Matthey, der Direktor des Westschweizer Arbeitgeberverbandes, sprach gegenüber RTS von einem «Damoklesschwert», das über den Köpfen der Firmen mit Grenzgängern hänge. Die 25-Prozent-Regelung entspreche nicht mehr der Realität auf dem Arbeitsmarkt, die Corona-Krise habe dies deutlich gezeigt.
Problematischer Grenzwert
Auch der Schweizerische Arbeitgeberverband wird von einzelnen Mitgliedern darauf hingewiesen, dass dieser Grenzwert problematisch sein könnte, wie das Geschäftsleitungsmitglied Daniella Lützelschwab sagt. Zahlreiche Unternehmen hätten in den vergangenen Monaten positive Erfahrungen mit Home-Office gemacht und würden das Instrument gerne breiter anbieten – auch Grenzgängern, was eben nur beschränkt möglich sei.
Weil die entsprechende Regelung mit dem Freizügigkeitsabkommen verknüpft ist, müsste eine allfällige Diskussion darüber aber in einem grösseren Kontext geführt werden, so Lützelschwab. Bei einer Reaktivierung der 25-Prozent-Regelung würden in jenen Branchen, in denen Home-Office künftig weiterhin problemlos umsetzbar sei, je nach Wohnsitz «faktisch wieder zwei Kategorien von Arbeitnehmern» geschaffen. Wichtig sei, dass die Rückkehr zur Normalität mit genügend Vorlaufzeit geschehe, der Arbeitgeberverband unterstütze also die Bemühungen des Bundes. Das BSV sagt, es verstehe die Anliegen von Arbeitgebern und Versicherten. In normalen Zeiten gälten die europaweit anwendbaren Koordinationsregeln jedoch uneingeschränkt und könnten «nicht von einem Staat alleine geändert werden».
Die Arbeitgeberverbände berichten unisono, dass sie seit Beginn der Corona-Krise von weit überdurchschnittlich vielen Unternehmen zum Thema angefragt würden. Viel Substanzielles können sie ihnen freilich nicht mitteilen: dass wohl bald schon zum Normalzustand zurückgegangen wird – und dass Arbeitgeber ab dann wieder gut aufpassen sollten, ihre Grenzgänger nicht zu lange im Home-Office zu belassen.
Quelle: NZZ-E-Paper vom 01.07.2020; Autor: Antonio Fumagalli
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