Das Tessin experimentiert mit dem Inländerschutz

Das Tessin experimentiert mit dem Inländerschutz

21. November 2018

Momentan fahren täglich 63 000 italienische Grenzgänger ins Tessin zur Arbeit. Damit machen sie etwas mehr als einen Viertel der Werktätigen im Südkanton aus. Ohne die Frontalieri würden etliche Strukturen kaum funktionieren, gleichzeitig verstärkt sich durch ihre Präsenz der Lohndruck auf Einheimische. Zudem besteht das Risiko, dass neu geschaffene Stellen oder Arbeitsaufträge direkt an Italiener vergeben werden.

Diese Situation hat zu Initiativen geführt, die den Tessiner Arbeitsmarkt schützen sollen. Eine davon hat vor wenigen Tagen ein unrühmliches Ende gefunden: Mit 42 zu 30 Stimmen (bei 9 Enthaltungen) hat der Grosse Rat das kantonale Handwerkergesetz LIA (Legge sulle imprese artigianali) abgeschafft – dasselbe Gesetz, dessen Einführung das Kantonsparlament noch im März 2015 nahezu einstimmig guthiess. Nur ein einziger Grossrat stimmte dagegen: Die LIA verletze das Bundesgesetz über den Binnenmarkt, monierte der damalige CVP-Parlamentarier Luigi Caimi. Genau dieses Argument hat jetzt zur Aufhebung des Handwerkergesetzes geführt.

Als die LIA im Februar 2016 in Kraft trat, wurde ein Handwerker-Register eingerichtet. In dieses musste sich jeder Betrieb eintragen, der im Tessin aktiv sein wollte. Der gebührenpflichtige Eintrag war zudem an die Erteilung einer Arbeitsbewilligung und an eine Überprüfung der Professionalitäts-Standards gekoppelt. Der springende Punkt ist also: Nicht nur Handwerksbetriebe aus dem Ausland, sondern auch jene aus anderen Kantonen sowie die Tessiner Handwerker selber mussten sich registrieren lassen – gegen eine Ersteinschreibungsgebühr von 2000 Franken. Ab dem zweiten Jahr waren dann 400 Franken zu bezahlen.

Gebühren gesenkt

Als es daraufhin immer mehr Proteste von privater Seite aus den Innerschweizer Kantonen, aus Graubünden, Italien und auch dem Südkanton gab, senkte der Tessiner Staatsrat die Ersteinschreibungsgebühr auf 600 Franken. Zusätzlich befreite er die Handwerksbetriebe aus anderen Kantonen teilweise von dieser finanziellen Pflicht.

Dennoch trafen immer mehr Rekurse beim kantonalen Verwaltungsgericht ein, beispielsweise aus Luzern und dem Tessin selbst. Und die Wettbewerbskommission des Bundes erhob gleich mehrere Einsprachen. Das Binnenmarktgesetz garantiere die inner- und interkantonale Wettbewerbsfreiheit, und diese sei durch das Tessiner Handwerkergesetz beeinträchtigt, lautete das zentrale Argument.

Das Verwaltungsgericht stimmte dem im Februar 2018 zu. Die LIA-Bestimmungen seien nicht verhältnismässig, und es liege auch kein übergeordnetes öffentliches Interesse vor – das Handwerkergesetz sei somit illegal und abzuschaffen. Da nützte auch die Feststellung nichts, seit der Einführung der LIA habe man einen Rückgang ausländischer Firmen um 30 Prozent verzeichnet. Keine Chance hatte auch der Rekurs des Dachverbands der Tessiner Baugewerbe-Vereinigungen (UAE): Das Bundesgericht liess die Einsprache gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts gar nicht erst zu.

So war eigentlich vorauszusehen, dass der Grosse Rat dem Antrag des Lega-Staatsrats Claudio Zali, des Chefs des für die LIA-Umsetzung verantwortlichen kantonalen Bau- und Umweltdepartements, auf Abschaffung des Handwerkergesetzes stattgegeben hat – im Bewusstsein, einen legislatorischen Fehler auszubügeln. In diesem Sinne hiess das Kantonsparlament auch eine parlamentarische Initiative der Lega-Grossrätin Amanda Rückert gut. Sie schlägt vor, eine mit dem Bundesgesetz kompatible LIA-Version zu erarbeiten.

Es droht ein Referendum

Zwei Varianten stehen zur Diskussion: ein obligatorisches Handwerker-Register ohne Gebühren und eines mit jährlichem Obolus. Worin genau der ausschlaggebende Unterschied zum jetzigen Handwerkergesetz besteht, wird sich zeigen müssen. Zudem könnte der Tessiner Baugewerbe-Dachverband am Montag beschliessen, das Referendum zu ergreifen.

Das Tessin experimentiert also weiter mit dem Inländerschutz. Das umstrittene Handwerkergesetz erweist sich als eine von drei Massnahmen, mit denen der Arbeitsmarkt besser vor dem Andrang der Grenzgänger geschützt werden soll. So hiessen im September 2016 zunächst rund 58 Prozent der Tessiner die SVP-Initiative «Prima i nostri» («Die Unsrigen zuerst») gut. Bei gleicher Qualifikation solle man einem im Tessin domizilierten Stellenbewerber den Vorzug vor einer Person mit Wohnsitz im Ausland geben.

Im Februar dieses Jahres formte der Grosse Rat aus der SVP-Initiative aber einen «Inländervorrang light». Dieser gilt nur für kantonale Betriebe und private Firmen, die überwiegend vom Kanton Aufträge oder finanzielle Zuschüsse erhalten. Die ursprüngliche Umsetzungsvorlage des kantonalen Inländervorrangs verletze das übergeordnete Ausländergesetz, lautete damals der Tenor.

Zuvor hatte im Juni 2015 das Stimmvolk einer vom Grossen Rat gutgeheissenen Initiative der Grünen zugestimmt. Diese forderte für einzelne Branchen das Recht auf Aushandlung eines Mindestlohns, wenn kein Gesamtarbeitsvertrag vorliegt. Dieser Mindestlohn gilt für Einheimische wie für Frontalieri: Dann wird die Anstellung «billiger» Grenzgänger obsolet. Ähnliche Modelle sind in den Kantonen Neuenburg und Jura in Kraft.

Mit diesen drei Massnahmen erscheint das Tessin als nationales Versuchslabor. Es experimentiert mit verschiedenen Modellen eines Inländervorranges – die definitiven Ergebnisse stellen Kompromisslösungen dar, an denen sich schweizweite Modelle orientieren könnten.

 

Quelle: NZZ-E-Paper vom 12.11.2018

 

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